Normen und Werte in Kunst und Kultur

Normen und Werte in Kunst und Kultur

Organisatoren
Lehrstuhl für Volkskunde/ Empirische Kulturwissenschaft, Friedrich-Schiller-Universität Jena; Coimbra-Group, Task Force „Culture, Arts and Humanities“ Collegium Europaeum Jenense
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.11.2009 - 07.11.2009
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Von
Angelika Gaudig, Jena

Gesellschaftliche Werte und Normen spiegeln sich – folgt man Pierre Bordieu – in symbolischem Kapital wider, sie sind kulturellen Praktiken wie Sprache, Musik und Werbung inhärent. In diesem Kontext behandelten die Referenten der internationalen Tagung in Jena ausgewählte Bereiche dieses umfassenden Themas. Transdisziplinäre wissenschaftliche Themen aus Politikwissenschaft, Jura, Ethik, Theologie, Volkskunde, Ethnologie, Sprachwissenschaft und Interkultureller Kommunikation wurden dabei ins Blickfeld gerückt.

Mit seinem Vortrag über die Konzepte und Vorstellungen der Menschenwürde am Beispiel von Albrecht Dürer und Giovanni Pico della Mirandola leitete ALEXANDER THUMFART (Erfurt) die Veranstaltung ein. Anhand ihrer Darstellungen und Schriften verwies er nicht nur auf den Kontext zwischen Renaissance und der europäischen Idee, sondern zugleich auf die Verknüpfung zwischen Philosophie und Kunst. Thumfart zufolge reflektierte Dürer jenes Konzept von Mirandola in seinem Stich „Melencolia I“ sowie in seinen theoretischen Schriften besonders kritisch, was aus Sicht des Referenten zur Folge hat, dass diese Ausführungen einen elementaren Beitrag für den gegenwärtigen Entwurf über Menschenwürde leisten könnten.

Anknüpfend referierte PETER KUNZMANN (Jena) über die Menschenwürde als universales Prinzip mit ihren Nuancen und Variationen. Er formulierte einleitend: „Würde ist ein universales Prinzip geworden: Universal zum einen, weil sie global Einzug gefunden hat in Verfassungen und Deklarationen; zum anderen, weil es zum Kern der Menschenwürde gehört, dass es keine Abstriche und Grade geben kann.“ Kunzmann verdeutlichte Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Hinblick auf die Deutung von Menschenwürde, was er am Beispiel des Grundgesetzes der BRD, der polnischen Verfassung, des Gebrauchs des amerikanischen Ausdrucks dignity und des französischen Begriffs dignité darlegte. Anhand dieses Diskurses gelang es ihm, die konzeptuelle Grenzwertigkeit von Menschenwürde aufzuzeigen.

Im Anschluss daran erörterte MAGDALENA GÓRA (Krakow) das Problem der „Kontinuität und/oder Änderung von Werten in der Europäischen Union nach der Erweiterung”. Eingangs setzte sie sich mit dem Einschluss der Grundgesetze in die EU-Gesetzgebung auseinander, in denen Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenrechte festgeschrieben sind. Am Beispiel einer polnischen Fallstudie veranschaulichte Gora, wie das für die EU geltende Werteverständnis innerhalb der neuen Mitgliedsstaaten aufgenommen wird. Insbesondere ging sie der Fragestellung nach, inwieweit der Einfluss der Werte sowie die demokratischen Prinzipien der EU in den Debatten über die Erweiterungsprozesse eine Rolle spielen.

Im folgenden Vortrag suchte OLAF LEIßE (Jena) die Perspektiven und Grenzen aufzuzeigen, die mit der Integration neuer Bürger in die Europäische Union einhergehen. In diesem Kontext verwies er auf die Vor- und Nachteile europäischer Wertevorstellungen und normativer Konzepte, wobei Leiße der Annahme nachging, dass es im Gegensatz zu den Nationalstaaten auf europäischer Ebene keine gemeinsame Grundlage gebe. Schließlich bestätigte er, dass sich im Hinblick auf nationale Identität statt vermeintlicher Dominanz die Steigerung eines gemeinsamen Werteverständnisses sowie einer kollektiven europäischen Identität abzeichnete.

Der zweite Teil der Tagung widmete sich der Problematik von Normen und Werten in der Feldforschung. CHRISTEL KÖHLE-HEZINGER (Jena) gab den Auftakt mit ihrem Vortrag „Alle Kreter lügen… Zur Forschungsethik im Feld“. Zu Beginn stellte sie das Konzept der Jenaer Volkskunde als Empirische Kulturwissenschaft vor und ordnete das Fach in den interdisziplinären Kontext ein. Am Beispiel eines Lehrforschungsprojekts zeigte sie Probleme auf, welche sich über die Jahre in der Feldforschung ergaben. Begriffe wie Heimatverlust, Erinnern und Identität hob sie als zentral hervor. In diesem Kontext ging sie auf Möglichkeiten zur Supervision und auf das Scheitern in der Forschung ein.

Als nächste Referentin stellte JULIANE STÜCKRAD (Eisenach) unter dem Titel „’Wenn die Heimat ihren Mann nicht mehr ernährt’. Zur ‚Entwertung’ von Lebensplanung im ländlichen Raum“ ihr Dissertationsprojekt vor. Ihre Ethnographie des Schimpfens liefert einen wichtigen Beitrag zur Erklärung der Perspektivlosigkeit der Elbe-Elster-Region im Süden von Brandenburg, mit der ihre Bedeutungslosigkeit für Einwohner und Fremde sowie die Unzufriedenheit über die fehlende historische Verwurzelung einhergeht. Im Gegenzug zeigte Stückrad die politische Zuversicht auf, regionale Identität mit Hilfe förderungswilliger Investoren schaffen zu können. Ihrer Auffassung nach existieren sowohl die Wertlosigkeit der Elbe-Elster-Region als auch die Desillusionierung der Bevölkerung nicht erst seit der friedlichen Revolution von 1989. Inzwischen gingen bisherige Alltagsstrukturen für den Einzelnen und in der Folge der gewohnte Zusammenhalt der Dörfer und Städte verloren. Gegenwärtig sind die meisten Einwohner gezwungen, sich mit Entfremdung und Individualisierung auseinanderzusetzen.

ANITA BAGUS (Jena) referierte über ihr Forschungsthema „Kontinuität und Wandel kultureller Praxen in ostdeutschen (Nachwende-) Generationen am Beispiel der katholischen Region Eichsfeld in Thüringen“, wobei sie intergenerative Tradierungen im katholischen Milieu im Zusammenhang mit der repressiven Kirchenpolitik sowie der atheistischen Weltanschauung der DDR in den Mittelpunkt stellte. Ihre Fragestellungen thematisierten Glaubensinhalte, Wertevorstellungen und Wertewandel unter anderem am Beispiel der Männerwallfahrt zum Klüschen Hagis.

Der Vortrag von KATHRIN PÖGE-ALDER (Jena) zeigte den Zusammenhang von Vorstellungen einerseits der Sammler und Editoren traditioneller Erzählstoffe sowie andererseits ihrer Erzähler auf, also von Personen, die traditionelle populäre Literatur wie Märchen und Sagen mündlich vorgetragen hatten. Die Brüder Grimm stellten in ihrem zweiten Band der „Kinder- und Hausmärchen“ (zuerst 1815) Dorothea Viehmann (1755-1815) als ideale Märchenerzählerin heraus. An ihrem Beispiel zeigte sich die Funktion der Sammler Jacob und Wilhelm Grimm, die die Auswahl der Geschichten trafen sowie den Geschichten nachträglich Struktur und Form gaben. Im zweiten Teil ihres Vortrages ging sie auf Ergebnisse ihrer Feldstudien über Persönlichkeit, Traditionen und Neuerungen heutiger Meistererzähler ein. Einer aus diesem Kreis, Jürgen Janning aus Münster, erhielt im November 2009 den Thüringer Märchen- und Sagenpreis in Meiningen.

Zur Thematik „Sprichwörter als Ausdruck populärer Normenvorstellungen“ sprach SABINE WIENKER-PIEPHO (Jena), indem sie am Beispiel des „Deutsch, Deutschsein, Deutschtümelei“ der Sprichwort- und Ethno-Stereotypenforschung aufzeigte, dass das Sprichwort an die jeweiligen gegenwärtigen Normen und Werte einer Kultur angepasst wird, zugleich aber auch prägend wirkt. So interpretierte sie Sprichwörter als „Indikator der intellektuellen und gefühlsmäßigen Gemengelage einer Kultur“.

DIETRICH SIMON (Marburg, Jena) referierte zum Thema „Zum Wertewandel in Ehe und Familie“, wobei er an deutliche Unterschiede zwischen dem Ehe- und Familienrecht der DDR und BRD erinnerte im Blick auf die rechtliche Stellung der Kinder, der Frau und des Mannes. Der historische Verlauf des Werte- und Normenwandels zeigt sich so innerhalb der jeweiligen Gesetze, zum Beispiel bei der im Grundgesetz der BRD verankerten Gleichberechtigung von Mann und Frau oder am Beispiel des Unterhaltsanspruchs.

SUSANNE SPÜLBECK (Köln) sprach über das Thema „Gender and Career: Normen und Werte als Grundlage für organisationsethnologische Beratung von Unternehmen in Veränderungsprozessen“, wobei sie die organisationsethnologische Unternehmensberatung ‚blickwechsel‘ in den Mittelpunkt stellte, die basierend auf kulturwissenschaftlichen Theorien und Methoden Untersuchungen in Unternehmen durchführt. Der wichtigste Aspekt bei einer solchen Beratung ist Spülbeck zufolge das Verständnis verschiedener Perspektiven im Veränderungsprozess des Unternehmens, sei es die der Führungskräfte oder der Mitarbeiter/innen. Am Beispiel der Studie „Gender and Talent Management“, eines Kooperationsprojektes mit der Ruhruniversität Bochum veranschaulichte sie Karrierechancen von Frauen im Top-Management. Diese Studie beinhaltete empirische Fragen nach der Rollenerwartung, dem Karriereangebot und -verzicht sowie den Kommunikationswegen von Männern und Frauen in internationalen Beratungsprojekten in Schweden und Deutschland.

ALOIS MOOSMÜLLER (München) beschäftigte sich mit dem im Jahre 1956 veröffentlichten Buch „The Organization Man“, in dem William H. Whyte die Idee der menschlichen Beziehungsschnelligkeit aufnahm. Dabei geht es um die Vorstellung, dass Harmonie zwischen Personen und Gesellschaft bzw. zwischen Angestellten und Gesellschaft herrschen muss. Dieser Grundgedanke führte zu einer grundlegenden Veränderung amerikanischer Werte. Moosmüller verdeutlichte, dass sich traditionelle amerikanische Ideale, wie Individualismus, Pioniergeist und Robustheit zu Anpassung und Mittelmäßigkeit entwickelten bzw. die Tendenz ablesbar wurde, dem allgemeinen Denken und Benehmen einer Gruppe zu entsprechen. Das Buch „The Organization Man“ ist Ausdruck dieser Kultur, die sich Moosmüller zufolge von der heutigen Unternehmenskultur insofern unterscheidet, als sie nicht transparent, nicht multinational und nicht global integriert war. Heutzutage werden erfolgreiche Berufstätige als Kosmopoliten, "Global Players" oder "globale Nomaden" bezeichnet und verstanden, die zugunsten ihrer persönlichen Ziele gesellschaftliche Strukturen auszunutzen wissen. Moosmüller bestätigte die Gültigkeit des Grundgedankens Whytes für Gegenwartssituationen bis heute.

Zusammenfassend kann man festhalten, dass sich Werte und Normen in unterschiedlichsten thematischen, zeitlichen und kulturellen Zusammenhängen als zentraler Indikatoren und Faktoren für Gesellschaften erweisen. Die Untersuchung von Normen und Werten im Rahmen interdisziplinärer Forschungen scheint daher äußerst ertragreich, nicht zuletzt, da an diesem Thema herausgearbeitet werden kann, welche Rolle moralische, kulturelle und wirtschaftliche Bezüge in den verschiedenen Gesellschaften einnehmen.

Konferenzübersicht:

Eröffnung
Kurt-Dieter Koschmieder (Prorektor der FSU Jena)
Jürgen Barkhoff (Trinity College Dublin / Chair Task Force “Culture, Arts and Humanities”)
Hanns von Mühlenfels (Collegium Europaeum Jenense)

Menschenwürde in Deutschland und Europa

Alexander Thumfart (Universität Erfurt):
Human Dignity. Concepts and Comments: Albrecht Dürer and Giovanni Pico della Mirandola Menschenwürde. Konzepte und Kommentare: Albrecht Dürer und Giovanni Pico della Mirandola

Peter Kunzmann (FSU Jena):
Human Dignity – Bias and Variations in a Universal Principle
Menschenwürde: Nuancen und Variationen eines universalen Prinzips

Magdalena Góra (JU Krakow):
Continuity and/or change of the European Union values in post-Enlargement reality
Kontinuität und/oder Änderung von Europäischen Union Werten in der Wirklichkeit nach der Erweiterung

Olaf Leiße (FSU Jena):
Wertvolles Europa? Entwicklungspfade zu einem immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker

Feldforschung und Fallstudien – Zum Wertewandel in Ostdeutschland

Christel Köhle-Hezinger (FSU Jena):
Alle Kreter lügen… Zur Forschungsethik im Feld

Juliane Stückrad (Eisenach):
„Wenn die Heimat ihren Mann nicht mehr ernährt“ Zur „Entwertung“ von Lebensplanung im ländlichen Raum

Anita Bagus (FSU Jena):
Kontinuität und Wandel kultureller Praxen in ostdeutschen Nachwendegenerationen am Beispiel der katholischen (Nachwende)Generationen am Beispiel der katholischen Region Eichsfeld in Thüringen

Text, Sprache und Präsentation als Vermittlungsinstanz von Normen und Werten

Kathrin Pöge-Alder (FSU Jena):
Was ist ein Meistererzähler? Normen und Werte von Vortragskünstlern im deutschsprachigen Raum

Sabine Wienker-Piepho (FSU Jena):
Sprichwörter als Ausdruck populärer Normvorstellungen

Alltagsorientierung und Religion

Dietrich Simon (PU Marburg / FSU Jena):
Zum Wertewandel in Ehe und Familie

Podiumsdiskussion
Klaus Dicke, Rektor der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Joachim Wanke, Bischof, Bistum Erfurt
Christoph Kähler, Altbischof Thüringen, stellv. Vorsitzender des Rates der EKD
Mathias Schreiber, Journalist, Autor des SPIEGEL Magazins
Moderation: Christel Köhle-Hezinger

Werte und Normen in Unternehmens-Kulturen

Susanne Spülbeck (UK Köln/blickwechsel):
Gender and Career: Normen und Werte als Grundlage für organisationsethnologische Beratung von Unternehmen in Veränderungsprozessen

Alois Moosmüller (LMU München):
„The Organization Man“ ein halbes Jahrhundert später – Flexibles Personal in multinationalen Unternehmen

Kontakt

Kathrin Pöge-Alder,
Lehrstuhl für Volkskunde (Empirische Kulturwissenschaft),
Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Email: kathrin.poege-alder@uni-jena.de